„Goldener Freitag“

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Wolfgang Putz (rechts) nach der Urteilsverkündung / Foto: Schobert Archiv & Dokumentation.

KARLSRUHE. (hls/hpd) Der Begriff „Sterbehilfe“ ist das Gegenstück zum Begriff „Geburtshilfe“: Interview mit dem vom Bundesgerichtshof (BGH) am 25. Juni 2010 freigesprochenen Rechtsanwalt Wolfgang Putz.

 

Der Medizinrechtler und engagierte Anwalt von Patienten, Wolfgang Putz, stand am Freitag, dem 25. Juni in Karlsruhe vor dem Bundesgerichtshof (BGH). Es wurde kein „Schwarzer Freitag“ für ihn, sondern ein „Goldener Freitag“ für die Rechtsgeschichte des Patientenschutzes in Deutschland. Der BGH sprach Putz von allen Vorwürfen frei, die das Landgericht Fulda mit mehrmonatiger Bewährungs- sowie hoher Geldstrafe gegen ihn wegen angeblich „versuchten Totschlags“ verhängt hatte. Am ersten Arbeitstag nach dem BGH-Urteil arbeitete Putz schon wieder in seiner Kanzlei. Anlass war unter anderem das nachfolgende HLS-Interview. In diesem Interview geht es auch um mangelhafte Aufklärung zu diesem Fall und seinem Ergebnis. Es geht um Emotionen, um rechtskundige Interpretation und um die Säulen des Rechtsstaats.

HLS: Herr Putz, vergangenen Freitag war Ihr Prozess vor dem BGH. Das Landgericht Fulda verhängte wegen versuchten Totschlags eine saftige Strafe. Es kam zur Revision. In allen Punkten wurden Sie freigesprochen. Ihr Kopf hatte längst vorher die Chance einer BGH-Prüfung begrüßt. Für Ihren emotionalen Seelenhaushalt dürfte es dennoch eine Zitterpartie gewesen sein. Oder nicht?

Emotionen als persönlich betroffener Rechtsanwalt

Putz: Es ist ein sehr interessanter Unterschied, ob man „nur“ Anwalt ist und einen Mandanten vertritt, der betroffen ist, oder ob man beides in persona ist. Es war so, dass es über lange Zeit eine rein berufliche Sicht war, später kam mehr und mehr das Bewusstsein, dass man mir vorwirft, dass ich eine alte Frau ermorden wollte und gegen Ende war einfach das unheimliche Druckgefühl, beispielsweise wie wenn man ein Staatsexamen in Philosophie geschrieben hat und sagt jetzt „Hoffentlich sind die Prüfer der gleichen Meinung. Ich habe natürlich das Richtige geschrieben, aber man weiß ja nie, was die Prüfer sagen.“ Diese Angst war natürlich die letzten Tage sehr bedrückend und jetzt ist der Druck weg. Zurzeit leide ich unter Euphorie.

HLS: Offenbar wurde das Urteil des BGH vereinzelt missverstanden. So wird in einer heutigen Tageszeitung die Warnung einer Hospizstiftung zitiert, wonach Todkranke nicht zum Spielball der Interessen und Meinungen Dritter werden dürften. Falsch verstandenes Mitleid könne schnell tödlich sein, wird ein Herr Brysch zitiert. Dies klingt nach Fremdbestimmung. Stärkt nicht umgekehrt die BGH-Entscheidung das Selbstbestimmungsrecht von Patienten?

Recht bleibt an den Patientenwillen gebunden

Putz: Die jetzige BGH-Entscheidung segnet strafrechtlich ab, was seit Jahrzehnten Recht ist und was seit 2003 auch ständige Rechtsprechung des zuständigen Zivilsenates des Bundesgerichtshofes ist. Es wird die Selbstbestimmung gestärkt, es wird immer wieder gebetsmühlenartig betont, dass nicht der Vertreter des Patienten nach seinen Wertvorstellungen entscheidet, sondern dass jedermann, seien es die Angehörigen, seien es andere Personen in Form von Betreuern oder Bevollmächtigten, jedermann ist an den Patientenwillen gebunden. Und das ist ein Dogma, das, glaube ich, auch solche Organisationen wie die Malteserritter problemlos unterstreichen, und das ist auch richtig. Und jetzt kommt die Idee auf, dass diese Verpflichtung dem Patientenwillen gegenüber missbraucht werden kann. Der Missbrauch ist selbstverständlich immer Unrecht. Das Missbrauchsargument diskreditiert niemals ein gutes Dogma. Wer auf ein gutes Dogma sofort mit Missbrauchsangst antwortet und einen Funken Intelligenz hat, der ist ein Zyniker, denn er erzeugt ja den Eindruck, dass dieses gute Dogma letztendlich zu Missbrauch führt. Das gute Dogma führt, korrekt ausgeführt, nicht zu Missbrauch. Missbrauch ist in diesem und in allen Bereichen immer Unrecht und das Missbrauchsargument ist schlicht kein Argument zwischen intellektuellen Menschen. Diese ganze Angst, die hier geschürt wird, ist natürlich Politik: Politik einschlägig konservativer Kreise, die nicht Angst vor dem Missbrauch haben, sondern die die korrekte Regelung des deutschen Rechtes weg haben wollen.

Teilweise schiefe Medienberichterstattung

HLS: In einigen Medien wird behauptet, der BGH habe entschieden, „dass die Behandlung eines unheilbaren Patienten abgebrochen werden dürfe, wenn er sich zuvor in diesem Sinne geäußert habe“. Als Augen- und Ohrenzeuge des Urteils habe ich eine präzisere Erinnerung: Der Patient muss nicht unheilbar erkrankt sein, der Wille des Patienten ist maßgeblich. Ein Behandlungsabbruch ist geboten, wenn der Patientenwille darauf ausgerichtet ist. Es darf also nicht nur abgebrochen werden, es muss in solchen Fällen sogar abgebrochen werden. Worauf führen Sie es zurück, dass die öffentliche Aufklärungspflicht von manchen Medien so unzureichend wahrgenommen wird?

Putz: Zunächst einmal: Die Wiedergabe der Rechtslage durch Sie ist vollkommen korrekt. Es gibt keinerlei Beschränkung, das hat die Richterin mehr als deutlich in der Erklärung unterstrichen. Das Patientenrecht gilt ohne Rücksicht auf Art und Stadium der Erkrankung. Wer es immer noch nicht glaubt: Seit dem 1. September ist es auch Gesetz, was bisher schon Rechtsprechung war. Und Sie haben völlig Recht: Jede Behandlung gegen den Willen des Patienten ist Unrecht, ist Körperverletzung, ist strafbar, auch wenn sie das Leben erhält. Es gibt keinerlei Gewissensrecht oder sonstige Rechte, die man dem Patientenrecht entgegensetzen kann und ich glaube, klarer kann man es nicht sagen: Es ist einfach falsch, dass es eine Einschränkung gebe. Wenn natürlich gesagt wird „ein unheilbar kranker Mensch hat das Recht, dass sein vorher schriftlich geäußerter Wille beachtet wird“, dann ist die Aussage ja nicht falsch, sie ist nur unvollständig. Aber auch gewisse Tageszeitungen leben davon, dass sie nicht falsch, sondern unvollständig berichten.

HLS: Sie wurden vom Landgericht Fulda bestraft, aber obwohl bereits gemäß Landgericht Fulda und in diesem Punkt bestätigend der BGH ein rechtswidriges Verhalten der Pflegeheimleitung und Heimbediensteten festgestellt hat, ignorierte die Staatsanwaltschaft offenbar diesen Straftatbestand. Jedenfalls wurden die Schuldigen nicht bestraft. Ist dies Ihrer Ansicht nach rechtsstaatlich vertretbar?

Rechtsverständnis steht Kopf: Das Agieren der Staatsanwaltschaft in Fulda

Putz: Die wirkliche Tragödie dieses ganzen Falles ist, dass sich die zur Hilfe gerufene Staatsmacht auf die falsche Seite geschlagen hat. Immer wieder wird uns vorgeworfen, dass wir sozusagen spektakulär und provozierend gehandelt hätten und es wird übersehen, 1. dass wir vollkommen korrekt gehandelt haben, wie das jetzige Urteil zeigt, 2. dass das auch damals schon Recht war, 3. dass wir die Polizei vorher informiert haben, dass es jetzt dann gleich Probleme geben dürfte und dass mir 4. der Polizeileiter der Bereitschaftsdienststelle in Bad Hersfeld sofort spontan sagte: „Das dürfen die doch gar nicht“, und gemeint hat er damit das Pflegeheim. Wir mussten damit rechnen, dass, wenn nun die Polizei kommt, sie das Pflegeheim in seine Schranken weist. Tatsächlich ist aber die Polizei von der Staatsanwaltschaft in Fulda angewiesen worden, den Rechtsbrechern zur Seite zu treten. Und das ist unglaublich und weist ja schon darauf hin, dass die Generalbundesanwaltschaft sich von diesem unmöglichen Verhalten ihrer Fuldaer Kollegen distanziert. Letztendlich zeigt das Urteil des Bundesgerichtshofs, dass es ein Skandal ist, dass sich die Staatsmacht auf die falsche Seite geschlagen hat. Da rufen Sie die Polizei, weil ein Einbrecher da ist und dann werden Sie festgenommen. Das ist unerträglich und das hat selbstverständlich zu einer Strafanzeige unsererseits gegen die Verantwortlichen des Pflegeheims geführt. Leider ist diese Anzeige ebenso wie der ganze Fall von der Staatsanwaltschaft Fulda verfolgt worden. D. h. man hat den Angestellten des Pflegeheims zugebilligt, dass sie sich zumindest in einem Verbotsirrtum befunden hätten. Jedenfalls hat man sie ungeschoren davonkommen lassen.

HLS: Es gab Irritationen, selbst bei Experten, die der Ansicht waren, möglicherweise noch sind, dass der Patientenwille partout in schriftlicher Form vorliegen müsse. Die Regel war aber bereits vor der Regelung des Patientenverfügungsgesetzes im vergangenen Jahr, dass der Wille, ersatzweise mutmaßliche Wille eines Patienten auch in mündlicher Form maßgeblich ist. Könnten Sie dazu noch einige deutliche Worte sagen?

Die Frage der Form-Vorschriften

Putz: Ich denke, es ist für jeden, der ein Anstandsgefühl und ein gesundes Rechtsempfinden hat ganz klar, was Medizinrecht und Medizinethik sagen: Der Wille des Menschen unterliegt keiner Form, keiner Formvorschrift. Es muss doch jeder anständig denkende Mensch verstehen, wenn ich oder meine Mutter oder mein Opa einen Willen haben, dass dieser Wille nicht erst dann existiert oder bindet, wenn er in einer gewissen Form geäußert ist. Wenn z. B. die Malteserritter jetzt sagen, unter vier Augen könne so etwas gesagt werden und darin ernsthaft eine Gefahr sehen, dann frage ich mich, was eigentlich diese kirchlichen Einrichtungen von der Ehe halten, wo man sich unter vier Augen einander verpflichtet für immer, „bis dass der Tod uns scheidet“, das ist die schönste Patientenverfügung, die es gibt.

HLS: Aktives Tun wurde mancherorts mit aktiver direkter Sterbehilfe gleichgesetzt. Der BGH hat hier deutlich den Behandlungsabbruch von einer aktiven direkten Sterbehilfe abgegrenzt.

Sterbehilfe muss nicht aktive direkte Sterbehilfe sein: Klärung durch den BGH

Putz: Das ist völlig richtig, nur wer entweder zu dumm ist, dieses Urteil zu lesen, oder zu böswillig, es richtig zu verstehen, wird auf die infame Idee kommen, es sei einer aktiven Sterbehilfe nun das Wort geredet worden oder ein Dammbruch ermöglicht worden. Genau das Gegenteil macht dieses Urteil, es sagt klipp und klar, dass Töten weiterhin Töten ist und dass die aktive Tötung des Patienten, sei es nach dem Willen des Patienten oder auf Initiative des Tötenden, ein Verbrechen ist. Das Urteil stellt nur klar, wenn ich einen Menschen aus medizinischer Indikation oder wegen seines Willens nicht weiter künstlich am Sterben hindern darf, dass das einer einheitlichen Betrachtungsweise unterliegt. Es stellt klar, dass es rechtsethisch und medizinethisch nach dem Empfinden aller anständig denkenden Ärzte und Juristen das Gleiche sein muss, ob ich eine Magensonde auslaufen lasse und nicht mehr befülle, oder ob ich den Patienten dadurch sterben lasse, dass ich die ihn am Sterben hindernde Beatmung abschalte.

HLS: Das Thema ist ja emotional sehr stark belastet. Damit ergeben sich auch immer wieder Diskrepanzen, wenn es um die Begriffe geht. Begriffe wie Sterbebegleitung, Sterbehilfe, Behandlungsabbruch, direkte/indirekte Sterbehilfe etc. Können Sie eine Entwicklung des Sterbehilfebegriffes in Deutschland feststellen? Z. B. hat das Robert-Koch-Institut vor Jahren bereits in Verbindung mit dem Statistischen Bundesamt eine Broschüre „Sterbebegleitung“ herausgegeben. In dieser Broschüre war aber nicht nur Sterbebegleitung das Thema, sondern auch Behandlungsabbruch, aktive direkte Sterbehilfe etc. Nun liest man in den Medien wieder sehr viel häufiger den Begriff der Sterbehilfe, aber durchaus im positiven Sinne, einer Hilfe im Sterben, beim Sterben, nicht zum Sterben im Sinne einer aktiven direkten Sterbehilfe.

Putz: Für mich war immer und ist und bleibt der Begriff Sterbehilfe das Gegenstück zum Begriff Geburtshilfe. Und es ist und bleibt immer ein Überbegriff. Und es macht überhaupt keinen Sinn, über die Überschriften zu reden, es macht nur Sinn, über die Inhalte zu reden. Ich hoffe, dass das Wort Sterbehilfe wieder der gemeinsame Überbegriff wird, den auch alle, egal, welcher Meinung sie zu den einzelnen Möglichkeiten der Sterbehilfe sind, akzeptieren.

HLS: In der FAZ ist am 26. Juni ein Artikel von Oliver Tolmein erschienen, der Ihnen letztlich vorhält, Sie würden Ihre Mandate politisch verstehen. Ist das so?

Kein „Rechtsanwalt für das schnelle Sterben“

Putz: Wie schon gesagt, ist es mir ganz wichtig, dass der Bundesgerichtshof klar gesagt hat, dass dieses Urteil schon zum Tatzeitpunkt geltendes Recht zugrunde legt. Es war also tatsächlich so, dass gegen die Eskalation der Gewalt, die das Pflegeheim gegen die Patientin plante, eine angemessene Selbsthilfe zwingend erforderlich war. Man vergisst immer wieder, dass wir sicher damit rechneten, dass sich die Polizei zu unseren Gunsten einsetzen und dem Pflegeheim klarmachen würde, dass es auf der Seite des Unrechts steht. Dann hätte die Frau, so wie wir es über eineinhalb Jahre durch vormundschaftsgerichtliche Verfahren nach den Vorgaben des Gesetzes herbeigeführt haben, in Frieden sterben können. Das ist alles andere als „der Rechtsanwalt für das schnelle Sterben“, wie mich Polemiker schon genannt haben. Auch die Tatsache, dass dies tatsächlich mein Lebenswerk ist, berührt mich nicht als Vorwurf, sondern als Anerkennung, weil ich mein Leben lang für die Patientenrechte in allen Stadien des Lebens gekämpft habe. Ich habe nur feststellen müssen, dass die selbstverständlichen Grundrechte des Menschen am ehesten denjenigen abgesprochen werden, die sich am wenigsten dagegen zur Wehr setzen können. Und deswegen ist es tatsächlich ein Kampf geworden für die Patientenrechte, der mit dem Urteil des Bundesgerichtshofes abschließend gewonnen ist. Und insofern bin ich am Ziel angelangt und bin auch stolz darauf und ich lasse mir gerne sagen, dass weit über die sorgfältige Interessenwahrnehmung im einzelnen Sterbemandat hinaus hier ein Gesamtlebensziel verfolgt und erreicht wurde.

Wachsamkeit bei Ortung des Patientenwillens bleibt Gebot

HLS: Der erstklassige Jurist und Ihr Verteidiger, Professor Widmaier, hat am Rande des Prozesses in Karlsruhe vergangenen Freitag von einem Fall erzählt, in dem Sie sich für die Lebensverlängerung einer Patientin eingesetzt hätten. Daraufhin wurde erläutert, dass die DGHS auch nach beiden Seiten hin wirkt, nämlich mit dem Patientenschutzbrief zum Behandlungsabbruch und alternativ einem Patientenschutzbrief zur lebenserhaltenden Therapie. Fehlt es am politischen und juristischen Bewusstsein, dass der Wille des Patienten stets nach beiden Seiten hin geprüft und abgetastet werden muss oder haben wir die Gefahr, dass es zu stark in Richtung Behandlungsabbruch läuft?

Putz: Die Gefahr, die derzeit tatsächlich besteht, ist die Praxis, dass es zu stark für „Lebensverlängerung“ läuft. Dieser Gefahr ist derzeit entgegenzuwirken durch Betonung, dass nichts gegen den Patientenwillen geschehen darf. Es könnte zum Umschlagen der Stimmung kommen, das sehen wir sehr wohl. Wir haben nicht nur in letzter Zeit, sondern immer Fälle gehabt, wo wir uns rechtzeitig dafür eingesetzt haben, dass man einen Menschen nicht oder nicht zu früh sterben lässt. Wir haben durchaus auch schon in einigen Fällen in jüngster Zeit empfunden, dass es zu einem zu saloppen Umgang mit dem schriftlich voraus geäußerten oder von den Angehörigen übermittelten Patientenwillen kommt. Hier muss man genauso wachsam sein wie umgekehrt. Und es ist schlicht und einfach das Eine kein Gegenargument für das Andere.

HLS: Ich danke Ihnen für das Interview.

Das Interview führte HLS-Chefredakteur Dr. Kurt F. Schobert

 

Vorabdruck aus der Printausgabe der Vierteljahreszeitschrift „Humanes Leben – Humanes Sterben“ (HLS 2010-3)